Von Notlügen und Selbstbetrug

Jeder Mensch lügt mehrfach am Tag, aus Höflichkeit, Angst oder Egoismus. Manche behaupten, wir nehmen es im Durchschnitt 25 mal nicht so genau mit der Wahrheit, andere sehen die Zahl bei weit über 100. Und was ist überhaupt eine Lüge? Und inwiefern sabotiert lügen unsere Selbstführungskraft?

 

Fakt ist: je nachdem mit wem, in welcher Situation und wie oft wir kommunizieren, sagen wir mehr oder weniger die Unwahrheit. Kleine Kinder tun es bereits und mit zunehmendem Alter wird es nicht weniger. Medien, Konzernchefs und auch renommierte Wissenschaftler verbreiten "Fake News". Sind wir also notorische Lügner?

 

Zuerst stellt sich die Frage: was ist Wahrheit überhaupt?

Ok, dass die Erde rund ist, das Gesetz der Schwerkraft hierzulande gilt oder dass wenige Milligramm Blausäure für den Menschen tödlich sind, dürfte unbestritten sein. Vieles sind jedoch subjektive Wahrheiten. Und damit meine ich jetzt nicht die alternativen amerikanischen Fakten.... oder dass die Bundeskanzlerin ein verkleideter Reptiloid vom Planet Alphapixelcentauri ist .... 

Leben Veganer gesünder, ist ein Elektroauto in jedem Fall umweltfreundlicher als ein Benziner? Sind Frauen emotionaler, bietet ein Großkonzern einen sicheren Arbeitsplatz? Je nachdem, welche Lebenserfahrung Du gemacht hast, welche Werte Du hast, mit welchen Menschen Du verkehrst, wirst Du andere Ansichten haben. Das ist zuerst mal weder richtig noch falsch und somit das, was Du sagst, nicht unbedingt eine Lüge.

Manchmal wollen wir dem anderen mit unseren Ratschlägen bei z.B. Krankheit oder Trauer Hilfe anbieten. Obwohl wir gar nicht beurteilen können, ob nicht etwas anderes eine bessere Unterstützung wäre.

Soweit noch kein Problem und vor allem dann nicht, wenn Du offen bist für andere Denkweisen und bereit bist, Deine Sichtweise auch mal zu revidieren.

 

Wo ist dann aber die Grenze zum Lügen?

Es beginnt damit, dass wir zwar etwas sagen, aber eben nicht alles. Wenn ich nur das Positive hervorhebe, erwecke ich einen falschen Eindruck. Eine Statistik, die nur bestimmte Merkmale betrachtet, den Maßstab zu groß oder zu klein wählt, stellt eine verzerrte Wahrheit dar. Du postest auf Instagram nur schöne Fotos von Dir.

Dieses Weglassen oder die beeinflusste Darstellung von Informationen ist sicher keine Lüge. Durch eine Recherche oder in dem man sich unterschiedliche Meinungen anhört, kann dies einfach entlarvt werden. Allerdings ist die Intention dahinter die bewusste, manipulative Beeinflussung des anderen. Nennen wir es mal "Lüge light".

 

Die nächste Stufe - die Notlüge, das Schwindeln. Du sagst, es geht Dir gut, obwohl Du seit längerem leicht depressiv bist. Du lobst das Essen der Schwiegermutter, die extra vegetarisch für Dich gekocht hat, obwohl es total versalzen oder verbrannt geschmeckt hat. Du bedankst Dich für das tolle Geschenk, obwohl es ein Fall für die Mülltonne ist. Du hast Migräne, noch Dringendes im Büro zu erledigen, nur um keinen Sex haben zu müssen.

Bereits den Kindern wird dieser Konflikt zwischen Ehrlichkeit, Höflichkeit oder leichtem Flunkern vorgelebt. Weil man den Partner oder die Großeltern nicht verletzten will. Weil man einer Diskussion aus dem Weg gehen möchte oder weil Du Dich oder Deine Privatsphäre schützen willst.

Manchmal machen diese kleinen Halbwahrheiten wenig Sinn: Kinder spüren, wenn die Ehe nur noch auf dem Papier existiert. Es bringt nichts, dem Kranken einzureden, der Krebs sei ja nicht so schlimm.

Ja, es mag diplomatisch sein, die Dinge nicht offen beim Namen zu nennen. Solange Deine Motivation ist, ein möglichst harmonisches soziales Leben zu haben, mag dies noch als positive Absicht durchgehen.

 

Die nächste Stufe ist die schlecht gemeinte Lüge, die durch puren Egoismus oder negative Absichten dem anderen gegenüber charakterisiert ist. Du schwärzt den Kollegen beim Chef an, du unterschlägst Geld, Du fälscht ein Zeugnis. Und willst damit ungerechtfertigt einen Vorteil erlangen oder dem anderen bewusst schaden.

Auch hier kann Deine Intention, die der Aussage oder dem Verhalten zugrunde liegende Motivation, ein Maßstab sein. Mag sein, dass es noch nicht kriminell ist. Durch die grundsätzliche negative Ausrichtung ist es aber ein "No-go".

 

Ähnlich gelagert, aber auf einer anderen Ebene, ist der Selbstbetrug.

Dein Job kotzt Dich seit Jahren an. Deine Ehe existiert nur noch auf dem Papier und Du hast einige Seitensprünge hinter Dir. Du bist verschuldet und leistest Dir dennoch ein teures Haus oder Wagen, um die Nachbarn zu beeindrucken. Du steigst nicht auf die Waage, da Du nicht mit Deinen 60 Kilo Übergewicht konfrontiert werden willst. Das Jahresabo im Staatstheater, das Kleid von Versace, die ritualen Familienfeste, Dein gutbürgerliches Leben im Reihenhaus - oft nichts anderes, als eine auf Lügen aufgebaute Scheinwelt.

Du willst nicht anecken und läufst in der meinungslosen, ruhig gestellten "Corona-Masse mit. Bei Antisemitismus, Mobbing oder frauenfeindlichem Macho-Gehabe im Büro siehst Du weg.

Im Sinne einer erfolgreichen Selbstführung ist dieser Betrug an Dir selbst die schädlichste Stufe. Du kannst Dir nicht mehr in den Spiegel schauen. Du tust Dinge, die Du "eigentlich" nicht länger machen willst. Du stellst Dich nicht der unumstößlichen Wahrheit. Letztendlich lebst Du ein armseliges, auf Lügen aufgebautes Leben, weil Du zu feige bist, mit Ehrlichkeit Dir selbst gegenüber Dinge zu ändern.

 

Wäre ein Leben ohne jegliche Lüge möglich? Fast ausgeschlossen. Denn mit dieser radikalen Ehrlichkeit würdest Du oft Menschen verletzen, sie beleidigen und es käme zu ständigen Konflikten im Alltagsleben.

Manchmal lassen wir uns gerne belügen, um mit der Wahrheit nicht konfrontiert zu werden. Oder wir wollen den Schein anderen, aber auch uns selbst gegenüber aufrecht erhalten.

Es sollte aber auch klar sein: jede Lüge hat Konsequenzen, manchmal sogar schwerwiegende. Und es kann dazu führen, dass Du durch Deinen Selbstbetrug eine unsägliche Lebenslüge inszenierst.